Die sozialen Werte des Sports

 Saskia von Greyerz, August 2015

Seit mehr als zehn Jahren baut das Resozialisierungsprogramm für Strassenkinder in Äthiopien auf der sport-pädagogischen Methodik des KRAFT-Modells auf. Zeit, sich wieder einmal die Methode und deren Entwicklung etwas genauer anzuschauen.

Das KRAFT-Modell wurde vom Vereinsgründer Stephan Zihler entwickelt und steht in seinen einzelnen Buchstaben für „Körper, Regeln, Akzeptanz, Fairness und Team“. Das Ziel der Methodik ist es, Kindern gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensformen (wieder) zu erlernen, die sie im rauen Alltag auf der Strasse abgelegt oder verlernt haben. Um eine nachhaltige Hilfe zur Selbsthilfe anbieten zu können, wird im Rahmen dieser Module ein realitätsnaher Bezug zum Alltag, die Flexibilität zur gesellschaftlichen Anpassung und die Möglichkeit zur Aktivierung des Klientel verlangt.

In den sportpädagogischen Lektionen innerhalb des Programms von STB in Äthiopien werden die Strassenkinder während einem Jahr fast täglich im Rahmen des KRAFT-Modells unterrichtet. Das Modell bietet in seinen fünf Bereichen eigens erarbeitete Spiel- und Trainingsformen an, welche in einem spielerischen Rahmen soziale Werte vermitteln. Diese ermöglichen es den Sportlehrerinnen und Sportlehrer, im Anschluss an jede Lektion, mit den Kindern und Jugendlichen den Transfer zum Alltag, zu den gesellschaftlichen Bedingungen und zu ihren individuellen Situationen zu schaffen.

Gruppengespräch nach einer KRAFT-Lektion

Gruppengespräch nach einer KRAFT-Übung

Diese Transfergespräche sind der zentrale Aspekt dieser Methode, weil durch sie eine Reflexion und somit eine Vertiefung des Erlebten stattfindet und die Entwicklung der persönlichen, inneren Haltung jedes Einzelnen unterstützt werden kann.

Während den letzten Jahren wurde das Modell laufend angepasst und wird innerhalb des Re-sozialisierungsprozesses von STB aktuell von vier Sportlehrerinnen und Sportlehrern angewendet.Tamiru, ein Sportlehrer von STB Äthiopien, stellt dabei fest: „Das KRAFT-Modell ist nicht mehr das, was es vor zehn Jahren einmal war. Die Struktur blieb erhalten, der Inhalt wird jedoch stetig und auf vielfältige Weise den verändernden Bedingungen angepasst und bedarfsorientiert weiterentwickelt.“

KRAFT-Lektion auf dem Trainingsgelände in Addis Abeba (Äthiopien)

KRAFT-Lektion auf dem Trainingsgelände in Addis Abeba (Äthiopien)

Als exemplarisches Beispiel erzählt er von einer aktuellen Adaption des Modells: Bereits Ende 2014 häuften sich Fälle, in denen Strassenkinder aus Addis Abeba einen neuen und sehr schädlichen Schuhleim schnüffelten. Dieser Leim ist in seiner Wirkung gefährlicher als die bisherigen Leime, weil er es ermöglicht, Emotionen stärker zu betäuben – bis hin zur Besinnungslosigkeit. Tamiru stellte mit grosser Sorge fest, dass durch die Konsumation des Schuhleimes die Zusammenarbeit mit den Kindern noch mehr erschwert wird und entschied sich deshalb im Januar 2015 das Modul „Körper“ zu erweitern und um eine Woche zu verlängern, um die Problematik zu vertiefen. Dabei setzte er in pädagogisch inszenierten Sportlektionen den Fokus auf den eigenen Körper, auf den Nutzen und die Gefahren von körperschädlichen Substanzen und führte zudem wichtige Transfergespräche, welche das Erlebte fassbarer machten und darauf hinzielten, Kraft aus sich selber zu schöpfen.

Tamiru (links) erklärt seinen Schülern eine KRAFT-Übung, Januar 2015

Tamiru (links) erklärt seinen Schülern eine KRAFT-Übung

Welche Bedeutung das KRAFT-Modell für die tägliche Arbeit im Projekt hat, erklärt Tamiru folgendermassen: „Das Modell, wie es uns Stephan Zihler gelehrt hat, soll im Kern der Arbeit flexibel bleiben, um so den Umständen gemäss reagieren zu können. Das Modell erlaubt es uns, die Arbeit den aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen entsprechend zu adaptieren und weiter zu entwickeln. Nur so kann eine nachhaltige Resozialisierung angestrebt werden, die stets im Wohle der Kinder agiert.“

Weitere Eindrücke von KRAFT-Lektionen im Programm von STB Äthiopien:

(Bilder von Lisa Meyer und Aurelia Golowin, Januar 2015)

Haile: Von der Strasse an den Gigathlon Ethiopia (Teil 1)

Haile’s Weg zu „Sport – The Bridge“ 

Haile lebt seit über drei Jahren auf den Strassen von Addis Abeba. Er schläft immer am selben Ort zusammen mit vier anderen Kindern. Sie liegen eng nebeneinande nahe einer Mauer, um sich gegenseitig warm zu geben. Während Haile, eingewickelt in eine bis übers Gesicht gezogene dünne Decke, tief schläft, erwacht die Stadt langsam. Erste Passanten eilen an ihm vorbei. Doch keiner von ihnen beachtet die Gruppe von Kindern am Boden.

Haile ist so müde, dass er davon nichts mitbekommt. Da es so kalt war in der Nacht, hat er nicht viel geschlafen, sondern ist mit seinen Freunden bis spät in die Nacht hinein in den Strassen herum gestreunt und hat sich erst früh morgens hingelegt.

Plötzlich reisst ihn jemand aus dem Schlaf. Eine fremde Person klopft ihm auf die Schulter, stellt sich vor und möchte ihm einige Fragen stellen. Sich den Schlaf aus den Augen reibend setzt sich Haile hin und hört zu. Der Mann arbeitet in einer NGO mit dem Namen „Sport – The Bridge“. Diese Organisation hilft Strassenkinder, wieder zurück zu ihren Familien zu gehen. . Der fremde Mann fragt ihn nach seiner Familie und wieso er auf der Strasse sei. Er bietet ihm an, am Morgen um 9.00 nach auf das grosse Feld (Jan Meda) von Sport The Bridge zu kommen

Haile hat bereits von dieser Organisation gehört. Es hat sich herumgesprochen, dass man sagen müsse, man hätte noch Eltern. Ansonsten habe man keine Chance, in diese NGO zu kommen. So erzählt Haile dem Mitarbeiter von „Sport – The Bridge“ von seiner Mutter und dass sie in einem kleinen Haus mit nur einem Zimmer am Stadtrand wohne. Heile fährt weiter, dass er sich das Haus mit seiner Mutter und seinen vier Geschwistern teilen musste. Wieso, dass er aber von zu Hause weg ging, verschweigt er. Alles muss er diesem Mann ja sicher nicht erzählen.

Haile hat bereits viele ERfahrungen mit NGOs gemacht, er ist aber in keiner lange geblieben. Jedes Mal gab es etwas, das ihm nicht passte und so landete er immer wieder auf der Strasse. Trotzdem möchte er zu Sport – The Bridge gehen. Er hegt die Hoffnung, dass er dort Essen und Kleider erhält. Zudem hat er vernommen, dass man in dieser Organisation viel Fussballspielen kann. Fussball ist seine Lieblingsbeschäftigung.

 

Haile entdeckt Jan Meda

Noch etwas müde, mit schmutzigen Kleidern und ohne Schuhe betritt Haile das „Sport – The Bridge“ (STB) Gelände auf Jan Meda. Es herrscht bereits heitere Stimmung. Einige Kinder spielen auf einem Sportfeld, andere warten plaudernd auf das Frühstück. Haile hatte eine kurze Nacht und kennt niemanden. Er setzt sich ruhig auf eine Bank und beobachtet das Geschehen.

Es dauert nicht lange bis zum Frühstück gerufen wird. Unter einem Wellblechdach sitzen die rund 60 Kinder und verschlingen ihre Brötchen und Bananen. Kurz danach wird Haile vom Sportlehrer Tameru eingeführt und es werden ihm frische Kleider für den Sportunterricht gegeben. Schon bald wird ihm bewusst, dass er hier einige Regeln zu befolgen hat. Sei es im Sportunterricht, im Umgang mit den anderen Kindern und den Lehrern oder in der Körperhygiene. Bei STB bekommt er ausser den Mahlzeiten keine Naturalien und auch keine Schlafgelegenheit zur Verfügung gestellt.

Das bedeutet, dass er jeden Abend zurück auf die Strasse gehen und sich jeden Morgen von Neuem entscheiden muss, ob er nach Jan Meda gehen möchte.

Vielen Kindern ist der Eigenaufwand zu gross und sie kommen schon nach einigen Tagen nicht mehr ins Projekt. Es ist nicht das, was sie erwartet haben. Die Kinder müssen bereit sein, selber etwas dazu beizutragen, um ihr Leben zu ändern.

 

Das Training

Haile fühlt sich bei „Sport – The Bridge“ (STB) wohl. Hier kann er nämlich jeden Tag seiner Lieblingsbeschäftigung nachgehen – dem Sport. Fussball ist seine Leidenschaft, die Kicker der Championsleague sind seine grossen Vorbilder.

Bei „Sport – The Bridge“ gibt es jeden Morgen eine KRAFT-Lektion mit einem pädagogischen Ziel, wie beispielsweise Vertrauen oder Fairness aufbauen. Am Nachmittag dürfen die Kinder jeweils zwischen verschiedenen Sportarten, wie zum Beispiel Basketball, Karate, Jonglieren oder Fussball auswählen. Heile findet es grossartig, täglich mit gleichaltrigen Kindern Sport treiben zu können.

Die Stimmung auf dem Compound kann allerdings auch schwanken. Nach einer anstrengenden Nacht mit wenig Schlaf auf den Strassen von Addis Abeba, kommen einige Kinder sehr müde und gereizt zu STB. Ein falscher Blick genügt und die Situation eskaliert. Nicht selten müssen durch fliegende Steine verursachte Kopfwunden behandelt werden. Doch auch durch den Sport verursachte Schürfungen und geknickte Füsse gehören zur Tagesordnung.

Haile schüchtert dies allerdings nicht ein. Er ist sich das raue Leben von der Strasse gewohnt. Bei STB möchte er einfach nur Sport machen und die Strasse für einige Stunden vergessen. Dass er dabei viele Sozialkompetenzen erwirbt, ist ihm gar nicht bewusst.

 

Bald geht’s in einem nächsten Blog weiter!