Beitrag von Céline Nadine Michel
Vor 4 Jahren lebte Abel* als Strassenkind auf den Strassen von Addis Abeba. Er glaubte an ein besseres Leben auf der Strasse und entschied sich, seine Eltern und sein Zuhause zu verlassen. Bei der Rekrutierung durch die Mitarbeitenden von Sport – The Bridge wurde Abel auf der Strasse aufgefunden. Ein Jahr lang besuchte er täglich das Projekt von Sport – The Bridge und die Sozialarbeiterinnen und -arbeiter konnten schlussendlich seine Schwester Sinta* ausfindig machen. Sport – The Bridge begleitete Sinta und Abel bei ihrer Wiederannäherung. Heute leben die beiden zusammen und meistern ihre täglichen Herausforderungen gemeinsam. Abel besucht die Schule und arbeitet nebenbei als Süssigkeitenverkäufer und trägt somit zum gemeinsamen Einkommen bei. Sinta hat bei Sport – The Bridge eine Arbeitsstelle gefunden. Sie kommt täglich auf den Compound, um beim Geschirrabwaschen zu helfen und verdient somit ihren Lebensunterhalt.
Ich habe Sinta hochschwanger kennengelernt. Trotz der bereits weit fortgeschrittenen Schwangerschaft kam sie jeden Tag auf den Compound, um zu arbeiten. Ich sah sie stets mit einem Strahlen auf dem Gesicht und sie hatte keine schwangerschaftsbedingten Beschwerden. Eines Tages wurde Sinta auf dem Compound vermisst und hatte sich bei niemandem abgemeldet. Deshalb rief Mesfin (ein Sozialarbeiter von Sport – The Bridge) Sinta besorgt an und wir erhielten die freudige Nachricht, dass sie Zwillingsmädchen geboren hatte. Alle seien wohlauf und sie werde bereits am nächsten Tag aus dem Spital entlassen. Mesfin vereinbarte mit Sinta, dass wir sie noch diese Woche besuchen durfen. Drei Tage später wurden wir von Abel auf dem Compound abgeholt und zu Sintas Wohnung begleitet. In einem kleinen, finsteren Raum mit einer Bank, einem Bett, einem kleinen Herd, umgeben von allen Nachbarskindern, der Besitzerin des Hauses und einer Katze, wurden Mesfin und ich äusserst liebevoll empfangen. Sinta sah ziemlich müde und erschöpft aus, hatte jedoch ein grosses Strahlen auf dem Gesicht sagte, dass sie überglücklich sei. Die beiden kleinen Mädchen, in ein dünnes Tuch eingewickelt, schliefen zufrieden neben ihrer Mutter. Wir überreichten unser Mitbringsel und teilten Sinta mit, dass Sport – The Bridge die Wohnungsmiete für die nächsten drei Monate übernimmt. Voller Dankbarkeit wurden Mesfin und ich mit Umarmungen überschüttet. Sinta bat uns, für die beiden Mädchen Namen zu wählen – aus Wertschätzung für unsere Geschenke. Wir wählten zwei schöne Namen aus. Die Erstgeborene machte einen guten, vifen Eindruck und war auch sehr aufmerksam. Die Zweitgeborene war ein zartes und feines Persönchen, ihre Gelbsucht war deutlich erkennbar und sie machte einen schläfrigen Eindruck. Sinta erzählte mir, dass die kleinen zur Zeit noch sehr müde seien und sich selten meldeten, um an der Brust zu trinken. Desweiteren habe sie noch kaum eine Veränderung in ihrer Brust (Brustdrüsenschwellung/Milcheinschuss) verspürt, deshalb sei das Saugen an der Brust für die beiden noch sehr anstrengend. Sinta erzählte weiter, dass sie vor der Geburt keine Schwangerschaftsuntersuchungen hatte und es für sie eine riesengrosse Überraschung gewesen sei, dass sie Zwillinge geboren hat. Desweiteren wusste Sinta nicht, in welcher Schwangerschaftswoche die Kinder zur Welt gekommen sind.
Die Situation ging mir sehr nahe. Mir schwirrten alle Risiken, die bei einer Frühgeburt bestehen, im Kopf herum. Vor allem machte ich mir Sorgen um die Erstgeborene mit Gelbsucht. Zu meiner Beruhigung hat die Familie ein sehr gutes soziales Netz, sie werden fürsorglich von der Besitzerin des Hauses und von ihren Verwandten umsorgt. Leider ist der Vater der Kinder seit der Schwangerschaft verschwunden. Sinta ist äusserst dankbar für die Unterstützung der Sport – The Bridge-Mitarbeitenden und sie weiss, dass sie von ihnen jederzeit Hilfe anfordern kann.
Nach einer Weile verliessen wir die Familie, einerseits mit einem Glücksgefühl, andererseits voller Besorgnis um die Mädchen. Ich habe mit Mesfin vereinbart, dass wir in engem Kontakt bleiben und ich sie ein weiteres Mal besuchen werde. Mesfin rief bald darauf bei Sinta an und erfuhr, dass Sinta genügend Milch hat, die beiden Mädchen sich regelmässig zum Trinken melden und auch die Kleinere mehr Energie hat. Ich war äusserst erleichtert über die erfreuliche Nachricht.
Eine Woche später folgte bereits ein weiterer Besuch von Mesfin und mir und mein Eindruck von der Familie hat sich sehr verändert. Ich habe einige Untersuchungen sowohl bei der Mutter als auch bei den Mädchen vorgenommen. Ich konnte ein schönes und gesundes Mutter-Kind-Beziehungsbild erkennen. Ein strahlendes Mami, zwei frühgeborene Mädchen, welche bereits an Gewicht zugenommen haben, sich zum Trinken melden und mit viel Liebe und Hingabe von der gesamten Familie umsorgt werden, stimmen mich positiv.
Meine Denkweise hat sich seit der Geschichte von Sinta und ihrer Familie verändert. Das Urvertrauen in die Natur und in den Mutterinstinkt helfen dabei, dass die frühgeborenen Zwillinge gesund heranwachsen, auch ohne das sofortige Eingreifen in die Mutter-Kind-Beziehung von aussen.
Desweiteren möchte ich mit dieser Geschichte aufzeigen, dass die Unterstützung durch Sport – The Bridge neben den Strassenkindern auch deren Familien zugute kommt. Eine erfolgreiche Reintegration von Abel bei seiner Schwester kam dank Sport – The Bridge zustande. Die Arbeit von Sport – The Bridge ist weitgefächert und es benötigt sehr viel Engagement, Flexibilität und psychische Belastbarkeit der Mitarbeitenden, um viele unterschiedliche Geschichten verarbeiten zu können. Grossartige Arbeit wird hier vor Ort in Addis Abeba geleistet und ich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit habe, einen Einblick in dieses Projekt zu erhalten und meine helfende Hand anbieten darf.
*Aus Datenschutzgründen wurden die Name geändert.